Das Café der Untoten

Ein Klingeln – das der Eingangstür – reißt Franz aus seinen Gedanken. Die Messingglocke scheppert ihm in den Ohren, als er das Café Rosental betritt. Noch bevor er richtig hinschaut, riecht er es: süßer Hefeteig, aber darunter etwas Muffiges. Säuerliches.

Hm, denkt er, säuerlich.

Erst als seine Augen sich an das gedämpfte Licht gewöhnt haben, begreift er, was er sieht: Menschen. Überall. Sie sitzen an den Tischen, gebeugt über Teller voller Kuchen und Brot. Ihre Finger graben sich in Apfelstrudel, zerren an Semmeln, stopfen sich Cremeschnitten in die Münder. Das Kauen ist laut. Schmatzend. Ihre Augen starren ins Leere.

Die Kellnerin – jung, blond, mit Schürze, die früher einmal weiß gewesen sein muss – steht hilflos zwischen den Tischen. In der einen Hand balanciert sie ein Tablett mit Kafeetassen, in der anderen einen Korb voller Brötchen. Ihre Hände zittern.

„Entschuldigung“, sagt Franz und räuspert sich. „Kann ich helfen?“

Sie dreht sich um. Ihre Augen sind weit aufgerissen, panisch. „Ich… die wollen alle nur essen. Immer nur essen. Seit heute früh schon.“

Franz nickt. Versteht nicht ganz, aber nickt trotzdem. „Was brauchen Sie?“

„Nachschub aus der Küche. Die Vitrine ist leer. Danke für Ihr Angebot, ich bin übrigens Mira.“ Sie deutet auf die gläserne Theke, in der nur noch Krümel liegen.

Er krempelt die Ärmel hoch. In der Küche stapelt sich frisches Gebäck auf Blechen. Streuselkuchen, Roggenbrot, Buttercroissants. Franz hebt das erste Blech hoch – schwerer als erwartet. Das Metall ist noch warm von den Öfen.

„Wohin damit?“, ruft er.

„Vitrine!“, kommt die Antwort von draußen. Miras Stimme klingt gehetzt.

Franz trägt das Blech nach vorne. Die Gäste schauen nicht auf. Selbst als er direkt neben ihnen vorbeischleift, rühren sie sich nicht. Eine Frau mittleren Alters kaut mechanisch an einem Mohnstrudel. Ihr Mund bewegt sich gleichmäßig. Auf, zu, auf, zu. Wie ein Uhrwerk.

Die Vitrine ist tatsächlich leer. Nur Brotkrümel und verschmierte Cremespuren. Franz beginnt, die Fächer zu füllen. Apfelkuchen in die obere Reihe, Semmeln nach unten. Seine Finger sind geschickt. Das hätte er nicht gedacht.

„Sie sind ein Geschenk des Himmels“, sagt Mira und wischt sich Schweiß von der Stirn. „Normalerweise essen die Leute nicht so… intensiv.“

Franz nickt und probiert ein Stück vom Streuselkuchen. Süß, aber nicht zu süß. Die Streusel zergehen auf der Zunge. Er schluckt und spürt, wie sich etwas Warmes in seinem Magen ausbreitet.

Ein älterer Herr mit Glatze hebt die Hand. Stumm. Franz nähert sich. Der Mann riecht… eigenartig. Nicht schlecht, aber muffig. Wie ein Keller, der zu lange verschlossen war.

„Was hätten Sie gern?“

Der Mann zeigt auf die Schwarzbrotscheiben. Seine Bewegung ist ruckartig, mechanisch. Franz legt ihm drei auf den Teller. Der Mann beginnt sofort zu essen. Reißt große Stücke ab, stopft sie in den Mund. Kaut nicht richtig, schluckt große Brocken. Krümel fallen auf seinen Pullover, aber das kümmert ihn nicht. Seine Augen starren dabei geradeaus, fokussieren nichts.

Seltsam, denkt Franz, aber Hunger ist Hunger.

Er geht zurück in die Küche. Holt das nächste Blech. Butterhörnchen diesmal, noch duftend. Eins davon beißt er selbst an. Butterig, weich. Der Teig klebt zwischen seinen Zähnen. Er kaut länger als nötig, genießt die Textur.

„Franz“, sagt Mira – er hat ihr seinen Namen genannt, wann eigentlich? – „können Sie den Kaffee auffüllen? Die Maschine steht hinten.“

Die Kaffeemaschine brummt und zischt. Franz füllt Kannen, trägt sie zu den Tischen. Die Gäste trinken hastig, als hätten sie tagelang nichts getrunken. Eine junge Frau mit wilden Locken greift nach seiner Hand, als er ihr Kaffee nachschenkt. Ihre Finger sind kalt. Eiskalt. Und klebrig. Sie lässt wieder los, ohne ihn anzusehen. Ihr Kopf bewegt sich träge, als würde er an unsichtbaren Fäden hängen.

Franz reibt sich die Hand. Eigenartig. Und dieser Geruch überall. Süßlich-muffig.

Zurück zur Vitrine. Ein kleines Mädchen, vielleicht acht Jahre alt, steht davor und starrt die Kuchen an. Ihre Augen sind glasig, leer. Sie blinzelt nicht. Überhaupt nicht. Franz wartet, ob sie blinzelt. Zehn Sekunden. Zwanzig. Nichts.

„Was möchtest du denn, Kleine?“

Sie dreht den Kopf zu ihm. Langsam. Zu langsam. Zeigt auf einen Schokoladenkuchen. Ihr Mund steht dabei leicht offen. Franz schneidet ein großes Stück ab, legt es auf einen Kinderteller mit Blümchenmuster. Das Mädchen trägt es zu einem Tisch, setzt sich und beginnt zu essen. Mit den Händen. Gräbt die Finger in den Kuchen, stopft ihn sich hinein. Schokolade verschmiert um ihren Mund, an den Wangen, sogar in den Haaren.

Franz beobachtet sie einen Moment. Kinder essen unordentlich, das ist normal. Aber so?

Er probiert selbst ein Stück von dem Kuchen. Die Schokolade ist bitter, aber angenehm. Er kaut, schluckt, spürt wieder diese warme Ausbreitung im Bauch. Angenehm. Sehr angenehm.

Die Stunden vergehen wie im Rausch. Franz läuft zwischen Küche und Gastraum hin und her. Trägt Bleche, füllt Vitrinen, serviert schweigenden Gästen. Zwischendurch immer wieder ein Bissen hier, ein Happen da. Das Roggenbrot ist besonders gut. Kräftig, mit einer leicht säuerlichen Note. Hat etwas Erdiges. Franz isst eine ganze Scheibe, dann noch eine.

Dabei beobachtet er die Gäste genauer. Eine Frau mittleren Alters kaut seit Stunden an demselben Stück Strudel. Ihr Kiefer bewegt sich gleichmäßig, aber sie schluckt nicht. Einfach nur kauen, kauen, kauen. Wie eine Kuh. Nur dass Kühe nicht so starr geradeaus blicken.

Ein Geschäftsmann im grauen Anzug sitzt über einem Teller voller Semmeln gebeugt. Seine Krawatte hängt in den Krümeln, aber das bemerkt er nicht. Er drückt die Brötchen zusammen, formt Klumpen und stopft sie sich in den Mund. Seine Finger sind voller Teig, seine Wangen aufgebläht wie bei einem Hamster.

„Sie essen ja auch gern“, bemerkt Mira und lächelt müde.

Franz nickt. „Schmeckt alles ausgezeichnet. Wer ist der Bäcker?“ Dabei mustert er einen älteren Herrn, der versucht, gleichzeitig drei verschiedene Kuchenstücke zu essen. Eins in jeder Hand, eins balanciert er irgendwie mit dem Mund. Krümel fallen auf den Boden, aber er sammelt sie auf und isst sie ebenfalls.

„Herr Kremser. Seit dreißig Jahren backt er für uns. Aber heute…“ Sie zuckt mit den Schultern. „Heute ist alles anders.“

Ein Mann im Anzug winkt. Franz geht zu ihm, bringt ihm Käsekuchen. Der Mann nickt dankbar, aber als Franz sich abwendet, hört er ein schmatzendes Geräusch. Er dreht sich um: Der Mann hat sein Gesicht direkt in den Kuchen gedrückt und leckt anschließend den Teller ab. Seine Zunge ist ungewöhnlich lang. Und grau.

Franz blinzelt. Grau? Das kann nicht sein. Schlechtes Licht vielleicht.

Franz wischt Tische ab, sammelt Krümel, räumt Geschirr weg. Seine Bewegungen werden routiniert. Fließend. Als hätte er das schon immer gemacht. Dabei bemerkt er, dass manche Gäste eigenartig gehen. Schlurfend. Die Füße heben sie kaum vom Boden. Eine junge Frau stößt gegen einen Stuhl, fällt hin, steht wieder auf und geht weiter, als wäre nichts gewesen. Kein Schmerz, keine Reaktion. Nur weiter zum nächsten Tisch mit Essen.

Zwischendurch greift er sich immer wieder etwas zu essen. Ein Croissant hier, ein Stück Hefezopf da. Sein Magen fühlt sich angenehm gefüllt an, aber der Hunger bleibt. Seltsam, dieser Hunger. Er kommt immer wieder, egal wie viel er isst.

„Wie lange machen Sie das schon?“, fragt er Mira.

„Sechs Jahre. Aber so einen Tag hatte ich noch nie.“ Sie schaut zu den essenden Gästen. „Die sind seit heute früh hier. Manche haben schon zehn Stück Kuchen gegessen. Mindestens. Und schauen Sie sich das an.“

Sie deutet auf eine Ecke, wo eine Gruppe von vier Personen um einen Tisch sitzt. Sie starren alle in dieselbe Richtung – ins Leere. Ihre Münder kauen synchron. Auf, zu, auf, zu. Wie ein Uhrwerk. Aber Franz sieht kein Essen in ihren Mündern.

Franz nickt und beißt in ein Marzipanbrot. Süß, mandelig. Der Geschmack breitet sich auf seiner Zunge aus wie warmer Honig. Er schließt kurz die Augen und genießt. Als er sie wieder öffnet, starrt ihn das kleine Mädchen von vorhin an. Sie steht direkt vor ihm. Wann ist sie aufgestanden? Er hat sie nicht kommen hören.

„Hallo“, sagt Franz.

Das Mädchen öffnet den Mund, als wolle es antworten. Aber es kommt nur ein leises Stöhnen heraus. Dann dreht es sich um und schlurft zurück zu seinem Tisch.

Als die Sonne tiefer steht, verabschiedet er sich. Mira drückt ihm dankbar die Hand. „Sie sind ein Engel“, sagt sie.

Franz tritt auf die Straße. Seine Beine. Schwer. Als würde er durch Sirup waten. Schritt. Noch ein Schritt. Seine Gedanken. Langsam. Wie Honig, der aus einem Glas tropft.

Nach Hause. Muss nach Hause.

Die Haustür. Schlüssel suchen. Wo ist der Schlüssel? Seine Finger. Ungeschickt. Fummel an der Hosentasche. Da. Der Schlüssel.

Drinnen riecht es nach ihm selbst. Nach seinem Leben. Aber das riecht jetzt… anders. Fade. Wie alter Käse.

Er setzt sich aufs Sofa. Will Fernsehen schauen. Die Fernbedienung. Wo ist die Fernbedienung? Seine Hände greifen ins Leere. Dann findet er sie. Drückt Knöpfe. Das Bild flackert. Nachrichten. Menschen reden schnell. Zu schnell. Die Worte verschwimmen.

Hunger.

Franz steht auf. Geht zur Küche. Öffnet den Kühlschrank. Das Licht ist grell. Zu grell. Er blinzelt. Milch. Käse. Wurst. Aber das will er nicht. Er will… was will er?

Brot. Er will Brot.

In der Brotdose liegt eine halbe Semmel von gestern. Hart. Trocken. Franz beißt hinein. Kaut. Schluckt. Es schmeckt nach nichts. Aber er kaut weiter. Immer weiter.

Seine Bewegungen. Ruckartig. Wie eine kaputte Marionette. Schritt. Pause. Schritt. Pause. Warum ist das so?

Er setzt sich wieder. Starrt auf den Fernseher. Die Menschen dort bewegen sich so fließend. So lebendig. Franz hebt seine Hand. Betrachtet sie. Die Finger bewegen sich träge. Als gehörten sie nicht zu ihm.

Komisch, denkt er. Oder versucht zu denken. Die Gedanken kommen nur in Fetzen. Kom… misch.

Draußen wird es dunkel. Franz sitzt immer noch auf dem Sofa. Die Semmel ist aufgegessen. Krümel kleben an seinem Hemd. Er wischt sie nicht weg. Wozu auch?

Morgen, beschließt er, geht er wieder ins Café. Mira braucht Hilfe. Und das Brot dort. Das war wirklich gut.

Kommentar verfassen

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu.

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen